Irrtum Nostalgie

Viele von uns haben viele Ferientage hinter sich und damit viele Gasthof-, Restaurantbesuche. Manche haben auch noch viele vor sich. Viele Restaurantbesuche führen uns - ob weit weg oder in der Nähe - in viele vergangene Zeiten. Und bei deren Betrachtung irren wir uns oft gewaltig. Denn wenn Großmutters Nähmaschine (die mit fußbetriebenem Drehschwungrad) neben der Küche steht und der verschwitzte Ober darauf eine eilige Tellerablage einrichtet-dann bin ich geneigt, den gestressten Ober zu bemitleiden und ihm die Muße zu wünschen, die man früher an solch romantischer bzw. wilhelminischer Nähmaschine verbrachte, mit Kindlein zu Füßen und einem Lied auf den Lippen. Oder da hängen Sense und Dreschflegel über dem Tisch, an dem wir speisen und darüber ein Ölbild mit Kornfeld, auf dem noch keine Chemie stank und Maschinenungeheuer donnern. Dafür stand der Bauer auf dem Feld, stützte sich auf die Sense und betete mit gezogener Mütze und Blick gen Himmel ein Mittagsgebet (die Kirchturmuhr im Hintergrund dieses Bildes zeigte 12 Uhr mittags, wo minimal ein Vaterunser fällig war, wenn die Ernte gelingen sollte). Oder die mächtigen Steinschlossgewehre, die die Tür zum Skiverleih zierten (in Gletschernähe ließ sich durchaus heuer Skilaufen). Oder die Kutscherlaternen auf dem Gang zur Toilette. Gute alte Zeiten, die umso wehmütiger stimmen je näher der Monitor des PC steht, in den überhastete Bedienungen die Zeche eintippen oder das Handy-Signal den mußevollen Gast aus der Betrachtung der Reste dieser guten alten Zeiten reißt. Alles Irrtümer! An den meisten Nähmaschinen saßen (um 1890) Näherinnen 14 bis 16 Stunden täglich für einen Tageslohn von (in heutige Euro umgerechnet) 75 Cent, Schwindsucht in der Billigwohnung in Flussnähe inclusive. Ein Tagelöhner beim Groß-Bauern verdiente mit Sensen und Dreschen 1896 (im Schnitt) pro Woche damalige 15-18 Mark. Und die eingezogenen Soldaten an den meisten Steinschlossgewehren konnten diese nur zu zweit tragen und bedienen, so schwer und schwerfällig waren diese O gute alte Zeiten - sie sind ein Irrtum. Und ich höre mit dem Nachdenken lieber auf, unter welchen Umständen diese Symbole guter alter Handarbeitszeiten damals funktionierten...Mein verschwitzter Kellner dürfte an seinem PC Arbeitszeiten und Lohn glücklicher geregelt haben als die Näherin, auf deren alter Maschine er jetzt die Teller abstellt und sich mit mir nach den alten Zeiten sehnt. Kontakt (E-Mail); Decker-Voigt@t-online.de

20. August 2002